Vier Vorschläge, um die Datenapokalypse zu verhindern

Als vor elf Jahren der frischgewählte Papst Benedikt vorgestellt wurde, blickte die Menschenmasse direkt auf den Balkon des Petersdoms. Acht Jahre später, bei der Vorstellung von Papst Franziskus, zeigte sich ein komplett anderes Bild. Die Gesichter der Menschen waren hinter blinkenden Displays verschwunden. Kaum ein anderes Bild stellt so gut dar, wie die digitale Kommunikation unsere Welt verändert hat. Unser Erlebtes müssen wir bei Instagram, Snapchat, Facebook oder Twitter mit der Welt teilen. „Ich poste, also bin ich“ heißt die neue Maxime vieler Menschen.

In einem Essay auf SZ.de kritisiert der Philosoph Byung-Chul Han dieses Credo der Datenwelt als Totalkommunikation, die zunehmend in Totalüberwachung resultiere. Unser Verlangen nach Kommunikation führe uns zwangsläufig in die komplette kommerzielle Ausbeutung des menschlichen Lebens. Er spricht von einem Hyperkapitalismus, der uns immer weiter durchleuchte und durchdringe. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Schufa in Deutschland täglich mehr als 200 000 Anfragen bearbeite, ist für Han Beleg seiner These.

Doch die großen Datenmengen und die Unternehmen, die mit ihnen ihr Geld verdienen, grundsätzlich zu verteufeln, das hilft uns als Gesellschaft leider nicht weiter. Vielmehr sollten wir endlich anfangen, uns mit den Mechanismen und Umwälzungen durch die datengetriebene Wirtschaft auseinanderzusetzen. Statt eine unaufhaltsame Entwicklung als Ganzes abzulehnen, ist es unsere Aufgabe, sie nach unseren Werten zu gestalten. In diesem Text werde ich vier Empfehlungen geben, was wir Politiker zu tun haben.

Um diese Mechanismen und Umwälzungen wirklich nachvollziehen zu können, müssen wir erst einmal einen Schritt zurücktreten und die bestehende „Small-Data-Welt“ anschauen. Daten erfüllen schon heute eine wichtige gesellschaftliche Funktion. So bestehen die Wissenschaften zum großen Teil daraus, Daten zu sammeln, sie auszuwerten und daraus Schlüsse für uns alle zu ziehen. Klimaforscher fahren zum Polarkreis, um Daten aus dem Eis zu sammeln. Der Wetterdienst sammelt schon immer Daten und versucht, auf ihrer Basis Prognosen zu treffen. Wir nutzten Daten schon lange, um unsere Welt besser zu verstehen. Dann kam die Revolution.

Diese Revolution ist die Schwelle von der „Small-Data-“ in die „Big-Data-Welt“. Wir dürfen uns nichts vormachen. Es handelt sich um eine Umwälzung, von der jeder einzelne Mensch betroffen ist. Künftig werden wir uns dem Einfluss der Daten und ihrer Auswertung nicht mehr entziehen können. Umso wichtiger ist es, dass wir anfangen zu verstehen, welche Umbrüche sich derzeit vollziehen.

Anhand der Veränderungen auf dem Buchmarkt lassen sie sich gut nachvollziehen. Früher kauften wir ein Buch und lasen es. Daten sind dabei nicht angefallen. Wir haben uns dabei oft auf Empfehlungen von Freunden, des Buchhändlers oder des Feuilletons verlassen. Heute hingegen wird die Mehrheit der Buchkäufe online getätigt, meist bei Amazon. Als der Konzern den Betrieb aufnahm, besaß er noch eine eigene Abteilung mit Menschen, die Bücher gelesen, bewertet und dann den Lesern empfohlen haben.

Doch irgendwann kam Amazons CEO Jeff Bezos auf die Idee, die Daten, die er durch den Kauf eines Buches erhält, zu verknüpfen und für sich zu nutzen. Anhand ihrer vorherigen Käufe konnte Amazon seinen Kunden wiederum automatisiert andere Bücher empfehlen. Dank des elektronischen Kaufs und der Einführung von E-Books verfügen Plattformen wie Amazon heute über immer mehr Daten und können diese nutzen, um den Kunden passende Angebote zu senden.

Anhand dieses Beispiels lassen sich exemplarisch alle Umwälzungen der datengetriebenen Wirtschaft erkennen. Vier Entwicklungen prägen unsere Welt:

  • Erstens wird unser Leben vorhersehbarer. Aus unseren bisherigen Gewohnheiten können wir immer bessere Vorhersagen über unser künftiges Verhalten treffen. Diese Entwicklung hat erst einmal viele positive Seiten. Wenn wir es schaffen, unsere Welt besser vorherzusehen, schaffen wir es auch, Risiken besser zu bewerten und zu minimieren. So können wir bereits heute durch digital gesammelte Daten den Verlauf von Epidemien besser vorhersagen und sie damit besser eindämmen. Aber es bedeutet auch, dass Unternehmen wissen, was wir als Nächstes kaufen wollen, bevor wir es überhaupt selbst wissen. Daraus ergeben sich große Manipulationsgefahren. Zudem machen auch die besten Algorithmen Fehler. Was, wenn es keine mit Menschen besetzte Stelle mehr gibt, an die man sich noch wenden kann, um einen Irrtum der Rechner korrigieren zu lassen?
  • Eine zweite zu beobachtende Entwicklung ist die extreme Akkumulation von Information und ökonomischer Macht in wenigen sehr mächtigen Unternehmen. Han spricht von Datentotalitarismus. Ein dystopischer, aber auch sinnentleerter Begriff, der uns in der Debatte nicht voranbringt. Anstatt eine Entwicklung insgesamt abzulehnen, müssen wir sie gestalten. Hier ist vor allem die Politik gefordert. Denn durch die Konzentration der Daten verschieben sich wirtschaftliche Macht und Reichtum zusehends. Damit einhergehend wächst auch die soziale Ungleichheit. Ein Fakt, der in der Debatte zu wenig beleuchtet wird.
  • Dritte Konsequenz der datengetriebenen Ökonomie ist, dass die technische Individualisierung der Gesellschaft immer weiter fortschreitet. Durch die Möglichkeiten der individualisierten Datenauswertung ergeben sich Risiken der Diskriminierung. Menschen, die bereits am Rand der Gesellschaft leben, könnten durch feinere Datenauswertung noch weiter nach außen gedrängt werden. Krankenkassen können bald immer genauer vorhersagen, wann und wie schwer wir krank werden. Die neuen technischen Möglichkeiten und der steigende wirtschaftliche Druck auf das Gesundheitssystem führen zusammen dazu, dass nur noch Menschen mit positiven Gesundheitsprognosen und gesellschaftlich akzeptiertem Lebenswandel ordentlich versichert werden. In den USA wird bereits mit Verbrechensvorhersagen durch Algorithmen experimentiert. Diese sahen in schwarzen Menschen vor allem potenzielle Kriminelle. Der Einsatz von Datenauswertungen kann von einem solidarischen zu einem diskriminierenden System führen.
  • Vierte Konsequenz aus Big Data besteht darin, dass der klassische deutsche Datenschutz, der vor allem auf Datensparsamkeit ausgelegt ist, immer weiter erodiert. Das soziale Internet ist darauf ausgelegt, dass wir Daten produzieren und unsere Privatsphäre ein Stück weit aufgeben. Bislang gibt es, trotz aller Appelle von Datenschützern, keine Hinweise, dass wir unser Verhalten kurzfristig ändern werden.

Wir müssen über die reine Kritik, wie Han sie übt, hinausgehen und debattieren, wie wir die komplette Datenausbeutung des Menschen noch verhindern können. Dabei hilft uns der Begriff der Datensouveränität weiter. Wirkliche Datensouveränität wäre keineswegs ein neues Recht, sondern nur die moderne Ausgestaltung der informationellen Selbstbestimmung. Mit einer klugen und durchsetzungsfähigen Verwirklichung dieses Grundrechts können wir die von Han prognostizierte Datenapokalypse verhindern.

Wir Politiker müssen für die Datensouveränität vier konkrete Schritte unternehmen – und zwar sofort:

  • Erstens muss der Staat wieder zum Datenschützer werden. Aktuell tritt er im Internet in doppelter Gestalt auf. Auf der einen Seite hat er die Aufgabe, unsere Daten zu schützen. Zugleich ist er aber zu Sicherheits- und Strafverfolgungszwecken der größte Datensammler. Die Politik muss dafür Sorge tragen, dass der Staat wieder seiner Schutzpflicht den Bürgern gegenüber nachkommt. Er muss seinen eigenen Datenhunger begrenzen. Polizeiarbeit ist in vielen Fällen die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Durch immer weiter ausgreifendes Datensammeln vergrößern wir nur den Heuhaufen immer weiter. NSA und andere Dienste können trotz ihres riesigen Budgets mit den von ihr gesammelten Daten nicht umgehen. In Brüssel und Paris waren die Attentäter der Polizei vorher längst bekannt und fielen trotzdem durch jedes Raster. Anstatt einer Datensammlung auf Vorrat müssen wir wieder zu einer gezielten Datensammlung zurückkehren.
  • Zweitens muss der Staat vorbeugend strenge gesetzliche Regeln auf den Weg bringen, die Diskriminierung anhand von Daten verhindern. Sie müssen auch scharf durchgesetzt werden können. Ein großes Problem des Datenschutzes besteht darin, dass wir ihn selbst unterminieren. Wir benutzen unzählige Programme, die ständig verfolgen, wo wir uns befinden, zum Beispiel, um per Fitnessarmband unser Training zu optimieren. Das große Desinteresse innerhalb der Bevölkerung gegenüber dem Datenschutz resultiert daraus, dass kaum jemand bisher Nachteile durch Daten erfahren hat. Das wird sich aber in Zukunft dramatisch ändern. Daher muss die Politik durch Gesetze schon jetzt verhindern, dass wir bald in einem diskriminierenden System leben.
  • Drittens brauchen wir dringend wirkliche Widerlegbarkeit von Datenvorhersagen. Auch sie bleiben Prognosen, können also auch falsch sein. Wir müssen verhindern, dass die Gesellschaft dem blinden Glauben an sie verfällt. Daher brauchen wir Transparenz bei Vorhersagen: Auf welchen Annahmen beruhen sie? Welche Daten werden genutzt? Außerdem muss es die Möglichkeit geben, im Einzelfall zu verlangen, dass ein Mensch entscheidet und kein Algorithmus. Auch wenn Algorithmen von Menschen programmiert werden, entscheiden sie nicht menschlich, sondern rein nach mathematischen Formeln.
  • Als vierte Maßnahme sollte die Politik mit Blick auf die digitalen Realitäten endlich die Instrumente der Wettbewerbspolitik ins Herz schließen. Diese werden zwar bereits etwa gegen die Marktmacht von Google eingesetzt, zielen aber darauf, ein wirtschaftliches Monopol zu verhindern. In der digitalen Ökonomie müssen wir sie auch einsetzen, um die Konzentration politischer Macht zu begrenzen.

In der Datenpolitik sind wir in einer entscheidenden Phase. In einem hat Professor Han recht: Wenn wir so weitermachen wie bislang sind wir auf dem Weg in die Totalüberwachung. Noch ist es aber nicht zu spät. Lasst uns mit dem Widerstand beginnen!

(Dieser Artikel ist zuerst auf Sueddeutsche.de erschienen)

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