Ein Erbe für alle!

Dieser Artikel ist in den Blätter für deutsche und internationale Politik erschienen

Wir erleben seit vielen Jahren, dass das Scheitern als Chance bejubelt wird. In TED-Talks treten erfolgreiche, oft sehr junge Manager:innen von Start-Ups auf die Bühne und erzählen begeistert von ihrem Scheitern. Sie sprechen davon, wie sie mit einem Unternehmen gescheitert sind, und lassen sich dafür feiern. Oftmals heißt es jetzt auch in Deutschland, dass wir uns mehr trauen, mehr wagen müssen und dass das ökonomische Scheitern zu unserer modernen Gesellschaft dazugehört. Das Scheitern wird zum neuen gesellschaftlichen Ideal erkoren. 

Doch dürfen alle in dieser Gesellschaft scheitern? 

Ich bin Teil einer Generation, die in erheblicher Unsicherheit lebt und aufgewachsen ist. Viele hangeln sich von einem prekären Job zum nächsten. In der Corona-Pandemie hat die wirtschaftliche Krise vor allem die jungen Menschen im Studium und die Berufseinsteiger:innen getroffen. Doch eine solche Krise lässt sich für jemanden mit Kapital deutlich leichter überstehen als für jemanden, der am Existenzminimum lebt und einer ständig drohenden Armut ausgesetzt ist. Eine Armut, die einen heute schneller denn je einholen kann. Der gesellschaftliche Sicherungsboden ist dünn geworden und bröckelt immer stärker.

Das Scheitern ist in meiner Generation nur dann einfach, wenn man danach Wege findet, wie es weitergeht. Das Scheitern ist nur dann eine Chance, wenn man einen weiteren Versuch bekommt, wenn man aufstehen kann. Ob dies möglich ist, liegt sehr klar an den eigenen gesellschaftlichen und finanziellen Möglichkeiten. 

Dass die Elite meiner Generation auf die TED-Bühne das eigene Scheitern feiert, dabei aber in keiner Weise mehr die eigenen Privilegien reflektiert, lässt mich, der ich selbst das Glück habe, finanziell privilegiert zu sein, schaudern. Wie weit muss man sich von der Gesellschaft entfernt haben, um diese gewaltige Kluft gar nicht mehr zu sehen?

Eines der Grundprinzipien unseres marktwirtschaftlichen Systems ist es – oder besser: soll es der Idee nach sein –, dass wir durch unser eigenes Handeln unser Leben, unser gesellschaftliches Fortkommen bestimmen können. Es ist das große Versprechen, das mit unserem Wirtschaftssystem einhergeht. Doch ist dieses Versprechenderzeit noch haltbar? Sind wir durch das Prinzip des Erbens nicht vielmehr auf dem Weg zurück in eine Art moderne 

feudalistische Gesellschaft? In eine Gesellschaft, in der die Abstammung wichtiger ist als das eigene Handeln? Und letztlich über die eigene Zukunft entscheidet?

Die unfassbar hohen Erbsummen der nächsten Jahre geben uns wichtige Hinweise darauf, dass sich unsere Gesellschaft gegenwärtig fundamental verändert.

Derzeit werden in Deutschland jährlich schätzungsweise rund 400 Mrd. Euro vererbt oder verschenkt.1 ZumVergleich: Der Bundeshaushalt betrug im Jahr 2021 knapp 500 Mrd. Euro. Aus dem Bundeshaushalt werden Universitäten, Spitzenforschung, Straßen, Arbeitslosenhilfe, ein Militär und so vieles mehr bezahlt. Durch das Erben werden mittlerweile jährlich unfassbare Summen hin und her bewegt. Und diese Summen werden immer und immer größer. Denn mit den sogenannten Baby-Boomern rollt die eigentliche Erbwelle erst noch auf uns, auf meine Generation, zu.

Nun ließe sich argumentieren, dass am Prinzip des Erbens und den derzeitigen hohen Summen nichts zu kritisieren sei. Schließlich wird damit die nächste Generation unterstützt. Eltern, die für einen gewissen Lebensstandard hart gearbeitet haben, geben ihr Erspartes an die Kinder weiter. Es hat sogar etwas Behagliches, wenn immerhin im finanziellen Bereich das Prinzip der Familie noch funktionsfähig ist. Das Erben kann auch einen wichtigen Beitrag zur Generationengerechtigkeit darstellen. Die Eltern leben nicht auf Kosten der Kinder, sondern geben ihnen das eigene Vermögen weiter. Wer kann etwas dagegen haben, wenn Eltern, wenn Großeltern, wenn die Familie füreinander sorgen will?

Doch – und das ist das zentrale Problem – die Erbsummen, die weitergereicht werden, werden nicht nur immer größer, sondern auch immer ungleicher verteilt. Die Mehrheit in der Gesellschaft erbt nichts oder nur sehr wenig. Dagegen profitiert vor allem das reichste Prozent der Bevölkerung von immer größeren Erbschaften. Sie können ihre Vermögen von Generation zu Generation immer stärker erweitern. Andere Bevölkerungsgruppen dagegen werden durch das Erben an den Rand der Gesellschaft gedrängt.

Wir liegen derzeit auf dem weltweit dritten Platz als Standort für Superreiche. Unter diesen sind in vielen Fällen Angehörige von Familienunternehmen zu finden, deren Vermögen von Generation zu Generation weitergereicht wird. Unter den Vermögenden in Deutschland befinden sich überdurchschnittlich viele mit hohen Erbschaften. In den USA oder in Großbritannien sind rund zwei Drittel der Superreichen durch das eigene Handeln vermögend geworden. In Deutschland dagegen haben 67 Prozent zumindest einen Teil ihres Vermögens geerbt. In kaum einem anderen Land ist demnach der „Faktor Erbe“ so entscheidend für die eigene ökonomische Situation wie bei uns. In kaum einem anderen Land ist die eigene familiäre Vergangenheit so zentral für die eigene Entwicklung. Und trotzdem reden wir darüber einfach nicht.

Männlich, alt, westdeutsch und ohne Migrationsgeschichte

Schaut man sich die Superreichen in Deutschland an, dann zeigen sich hier vor allem sechs Eigenschaften sehr häufig: sie sind männlich, haben ein hohes Alter, ihnen fehlt eine Migrationsgeschichte, sie sind westdeutsch, gut gebildet und selbstständig tätig. Bereits an diesen Eigenschaften zeigt sich die besondere Schärfe und Dringlichkeit der deutschen Situation. 

Durch das Weiterreichen von Vermögen kann sich auch die Schere zwischen Ost und West kaum oder nur sehrlangsam schließen. Ostdeutsche verfügen, durch die Vergangenheit bedingt, über viel weniger Vermögen als Westdeutsche. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei Menschen mit Migrationsgeschichte. Diese erben in vielen Fällen kaum etwas. Das vererbte Vermögen scheint das politische Ziel der Chancengerechtigkeit zu verhindern, ohne dass wir darüber gesellschaftlich je wirklich debattiert haben. Es manifestiert gesellschaftliche und ökonomische Strukturen der 70er und 80er Jahre. Kurzum: Wir konservieren eine Gesellschaft, die sich längst gewandelt hat – ohne uns darüber zu empören.  

Wir regen uns als Gesellschaft und als Politik oft über die zu hohen Gehälter bei Führungskräften auf. Jedes Mal, wenn neue Gehaltszahlen veröffentlicht werden, legt sich eine Welle der Empörung über unser Land. Zurecht fragen sich viele, wie solche Gehälter mit unserem Leistungsprinzip vereinbar sind. Reflexhaft hört man Grüne, Linke und SPD nach einer Vermögenssteuer und einem höheren Spitzensteuersatz rufen. Wir haben, so scheint es, immer noch eine gute Sensorik für Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft.

Doch beim Thema Erben passiert nichts. 

Warum steht nicht jede Woche eine andere NGO auf der Straße, um mit tausenden anderen zusammen zudemonstrieren? Warum ist das nicht das Hauptthema der sozialen Verbände in Deutschland? Und warum sind auch die linken Parteien in der Debatte so verdammt ruhig? 

Schaut man in die Programme dieser linken Parteien, so wollen alle mit dem Instrument der erhöhten Steuern ein wenig in die derzeitige Dynamik eingreifen. Doch offensiv nach vorne tragen möchte das keine Partei. Man versteckt es lieber im Kleingedruckten der Wahlprogramme, die sowieso kaum jemand liest. Für ein Wahlplakat scheint sich das Thema nicht zu eignen. Bei Koalitionsverhandlungen wird die Forderung dann auch regelmäßig wieder schnell in die Schublade gesteckt und fallen gelassen. Es sollen möglichst wenige von der politischen Forderung erfahren, so scheint es.

Der Grund dafür: Fragt man nach einer Erbschaftssteuer, dann äußert eine Mehrheit der Befragten ihre Bedenken. Eine Umfrage des britischen Meinungsforschungsinstituts YouGov hat ergeben, dass 70 Prozent derDeutschen die Besteuerung von Erbschaften unfair findet – obwohl es sich hierbei um einen sehr milden politischen Eingriff handelt. Nur jeder Fünfte befürwortet grundsätzlich eine Besteuerung von Erbschaften.

Erben, das ist mir in den letzten Jahren noch einmal bewusst geworden, vollzieht sich bei uns im Dunkeln. Denn dem Erben geht in der Regel der Tod eines nahen Verwandten voran. Wenn ein Freund oder eine Freundin einen Elternteil verliert, dann fragen wir zu Recht nicht nach dem Erbe, sondern wir versuchen, die Person zu trösten, ihr Halt zu geben. Und nach einigen Wochen oder Monaten fragen wir auch nicht mehr danach.  

Das Erben ist daher ein Prozess, der sich außerhalb der Öffentlichkeit vollzieht. Ihm fehlt jegliche Bühne für eine gesellschaftliche und politische Debatte. Wenn ein Fußballspieler für mehrere hundert Millionen Euro Ablösesumme den Fußballverein wechselt, dann ist diese Summe am nächsten Tag in etlichen Zeitungen zu lesen. Anders beim Erben: Denn das vererbte Geld ist noch schambehafteter als beispielsweise unser Einkommen durch Arbeit. Bereits über dieses Einkommen wird in Deutschland sehr wenig und nur sehr ungern gesprochen. Anders als beispielsweise in vielen skandinavischen Ländern redet man bei uns wirklich nicht gerne über Geld. Was jemand verdient, zählt bis heute zu den großen persönlichen Geheimnissen, die kaum jemandpreisgeben will. Noch mehr gilt das für das Erben: Egal wie groß die vererbten Summen sind, sie bleiben der Öffentlichkeit fast immer verborgen. 

Die meisten Erben entziehen sich auch sehr bewusst der medialen und gesellschaftlichen Beurteilbarkeit. Dabei wäre diese heute so verdammt notwendig. Andere gesellschaftliche Probleme wie der Bildungsnotstand, Arbeitslosigkeit oder Mängel in der Gesundheitsversorgung werden auf offener Bühne sichtbar. Mehr noch: Sie sind für uns individuell spürbar und werden damit auch Teil eines politischen Aushandlungsprozesses. Beim Erben ist das nicht der Fall. 

Dabei sind wir auf dem Weg hin zu einer Gesellschaft, in der nur noch die Herkunft zählt und immer weniger die eigene Leistung. Das große Versprechen des Kapitalismus – individueller Aufstieg ist möglich – geht zunehmend verloren. Am Ende bleiben nur noch die negativen Folgen dieses Wirtschaftsprinzips erhalten: Die Spaltung schreitet immer weiter und immer schneller voran. Es ist eine Dynamik, die wir aktuell sehen und spüren können.

Doch während wir als Gesellschaft große technologische Veränderungen durchgemacht haben, politische Systeme kommen und gehen sahen und sich die politischen Einstellungen der Generationen im Laufe der Jahrhunderte grundlegend gewandelt haben, ist das System des Erbens weitestgehend intakt geblieben. Es besitzt eine unfassbare Beständigkeit.

Die Kontinuität des Erbens 

Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts bildete sich in den Grundzügen das Erbsystem heraus, wie es in allen westlichen Ländern bis heute Bestand hat. Als solches hat es in Deutschland zwei Weltkriege, die Weimarer Republik, die DDR und unseren derzeitigen Kapitalismus anscheinend unbeschadet überlebt. Es gibt wohl nur wenige politische Prinzipien, die das von sich behaupten können.

Trotz dieser Beständigkeit hat das Erben in der Vergangenheit immer wieder zu großen gesellschaftlichen Kontroversen geführt. So hat sich zum Beispiel die Philosophie lange Zeit leidenschaftlich über die grundsätzliche Legitimität des Erbens gestritten. Und die Debatten im politischen Raum wurden nicht weniger hart geführt. Das Thema Erben war früher also keineswegs ein politisches Nischenthema.

Der Philosoph Alexis de Tocqueville hielt das Thema Erbschaft sogar für das zentrale politische Thema. Nachder Regelung dieser Frage könne der Gesetzgeber laut ihm die Arbeit ruhen lassen. Und Karl Marx, aber auch liberale Vordenker wie John Stuart Mill, wollten das Erben stark einschränken, um so für gerechte Chancen zu sorgen.

Das Erbrecht wurde somit auch dafür genutzt, um gesellschaftlichen Fortschritt zu forcieren. Denn: Bevor es sich das Erbrecht in seiner heutigen Form entwickelt hat, war es ein Prinzip des Feudalismus. Es diente vor allem dem Adel, seinen Besitz und seine Macht an die nächste Generation weiterzugeben und zu sichern. Erst mit dem modernen Erbrecht wurde aus dem (vermeintlich gottgegebenen) Naturrecht das durch den Souverän geschaffene Zivilrecht. Damit wurde dieses Recht auch einschränkbar und Teil eines politischen Aushandlungsprozesses. Die Debatten, die sich damals geformt haben, sind bis in die Gegenwart erkennbar. 

Der ewige Streit um die Erbschaftssteuer

Politisch debattieren wir derzeit vor allem über die Höhe der Erbschaftssteuer. Für viele ist sie ein wichtiges Werkzeug, um die soziale Ungleichheit abzufedern. Andere sehen in ihr eine illegitime Einmischung des Staates in einen privaten Geldtransfer und das drohende Ende des deutschen Mittelstandes.

Der Blick auf die Debatte um die Erbschaftssteuer zeigt auch den fundamentalen Wandel in den ökonomischen Einstellungen: Während in den 1970er Jahren eine Mehrheit der Bevölkerung für die Erhöhung der Erbschaftssteuer plädierte, sehen wir heute ein umgekehrtes Bild. Seit den 90er Jahren wurden dieErbschaftssteuern in vielen westlichen Ländern gesenkt oder zum Teil sogar vollständig abgeschafft – etwa 1993 in Neuseeland oder 2008 in Österreich. In beiden Ländern wurde sie bis heute nicht wieder eingeführt, in anderen Ländern wurden die Steuersätze im Laufe der Zeit stark reduziert. Es fügt sich in ein Bild einer Zeit, in der die Steuern auf Vermögen im Namen der nationalen Wettbewerbsfähigkeit weltweit gesenkt wurden. Und es zeigt, 

wie eng Erben und Steuern aneinandergekoppelt sind. 

Allerdings spielt die Erbschaftssteuer aktuell, gemessen an den gesamten Steuereinnahmen, eine vernachlässigbare, fast lächerliche Rolle – und das obwohl die Erbschaftssummen immer weiter steigen. Im Jahr 2021 nahm der Staat 11 Mrd. Euro aus der Erbschaftssteuer ein – gegenüber knapp 340 Mrd. aus der Einkommenssteuer. 10

Dabei sollte die Erbschaftssteuer eigentlich die Akkumulation von Vermögen verhindern. So steht es sogar in der bayerischen Verfassung festgeschrieben. Doch dieser Aufgabe kommt die Erbschaftssteuer heute kaum noch nach.

 Dies liegt zum Teil an hohen Freibeträgen für Vermögen, die steuerfrei vererbt werden können. Bei Ehegatten und Lebenspartner:innen beträgt dieser steuerliche Freibetrag ganze 500 000 Euro. Bei Kindern reduziert sich dieser dann auf 400 000 Euro. Je näher der Verwandtschaftsgrad, desto höher der Freibetrag. Die prozentuale Höhe der Erbschaftssteuer bemisst sich wiederum auch über den Verwandtschaftsgrad. Erbt ein Ehepartner beispielsweise 600 000 Euro dann beläuft sich der Steuersatz auf 15 Prozent. Bei Erbschaften unter nicht verwandten Personen erhöht sich der Steuersatz bei dieser Erbschaftssumme lediglich auf maximal 30 Prozent.

Doch es gibt noch einen weiteren Regelungsbereich, über den seit Jahren juristisch wie politisch hart gerungen wird: das Erben von Firmenvermögen. Der deutsche Mittelstand, die vielen familiengeführten Unternehmen, wird oft als Rückgrat der Wirtschaft bezeichnet, weshalb er im Erbrecht stark verschont wird. So muss heute auf Erbschaften von Unternehmen kaum Erbschaftssteuer gezahlt werden, um deren Weiterbetrieb möglichst unterstützen. 

Die Erbschaftssteuer funktioniert nicht mehr

Was im ersten Moment nach einer klugen Regelung klingt, bringt auf der anderen Seite enorme Verwerfungen und Ungerechtigkeiten mit sich. Denn gerade die sehr hohen Erbschaften im Millionen- und Milliardenbereich bestehen meist zum Großteil aus Firmenanteilen.

Die Verschonung führt uns zu der paradoxen Situation, dass sehr hohe Erbschaften oftmals weniger besteuert werden als die mittleren Erbschaften. 40 Prozent derer, die mehr als zehn Millionen Euro geerbt haben, zahlten keine Steuern auf ihr erhaltenes Erbe. Dabei leben wir heute bereits in einer Situation, in der die Erbschaftssteuern historisch niedrig sind. In der Nachkriegszeit wurden in Deutschland beispielsweiseSpitzensteuersätze von 60 Prozent verlangt. In den USA waren es sogar ganze 77 Prozent. Doch davon sind wir heute weit entfernt.

Im Jahr 2014 erklärte sogar das Bundesverfassungsgericht die geltende Regelung der Steuerbefreiung von Unternehmensanteilen als zum Teil verfassungswidrig. Doch das Urteil hat leider wenig an dieser grundlegenden Praxis geändert. Die damalige Bundesregierung setzte nur die minimalen Anforderungen des Urteils um. Teilweise haben die Änderungen sogar zu einer größeren steuerlichen Bevorzugung von hohen Erbschaften geführt.

Ein zusätzliches Problem der Erbschaftssteuer sind die einfach nutzbaren Umgehungswege. Vermögende verfügen durch eine professionelle Steuerberatung über einfache Wege, die Steuer zu vermeiden – etwa die Möglichkeiten einer frühzeitigen Schenkung vor dem Tod, der Übertragung von Vermögen in Unternehmensanteilen oder der Gründung von Stiftungen. Während Menschen mit geringen Erbschaften die Erbschaftsteuer kaum umgehen können, ist dies bei hohen Erbschaften meist möglich. Hierdurch verstärkt sich die unterschiedliche Steuerbelastung noch einmal. 

So wird im Ergebnis aus einer Steuer, die vor allem die Vermögenden treffen sollte, nach und nach eine Steuer, von der die Vermögenden immer stärker befreit sind. Ab einer Erbschaftssumme von 10 Mio. Euro sinkt die prozentuale Steuerbelastung. Die Steuer wirkt dann nicht mehr progressiv, sondern regressiv.

Damit verliert die Steuer auch zunehmend die eigentliche Funktion, für die sie Anfang des 20. Jahrhunderts eingeführt wurde, nämlich die Vermögensakkumulation zu verhindern und so für einen gewissen Ausgleich in den Reichtumsverhältnissen zu sorgen. 

Dabei ist die Erbschaftssteuer bereits eine der letzten verbliebenen „Reichensteuern“ in Deutschland. Doch in den zurückliegenden Jahren wurden wohlhabende Menschen insgesamt steuerlich immer weiter entlastet. Die Vermögenssteuer wurde ausgesetzt, der Spitzensteuersatz auf Einkommen wurde gesenkt und die Unternehmens- und Kapitaleinkommenssteuern wurden abgebaut alles im Namen der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. 

Am Ende stehen wir heute bei einer vergleichsweise hohen Steuerbelastung auf Arbeit  und einer immer weitergehenden steuerlichen Entlastung auf Vermögen angekommen.

Eine Studie des Kings College hat dabei die Effekte der Steuersenkungen auf Vermögen in den Ländern der OECD untersucht. Die Steuersenkungen 

haben, laut der Studie, keine Effekte auf das Wirtschaftswachstum der Länder, verstärken dafür aber die Vermögensungleichheit weiter. Die Steuersenkungen auf Vermögen der letzten Jahrzehnte hatten dagegen einen sehr einseitigen Effekt: Sie haben am Ende vor allem den Vermögenden genutzt und der Allgemeinheit geschadet.

 Trotz dieser Erkenntnisse hat bis heute keine Bundesregierung diese Reformen rückgängig gemacht. Auch die aktuelle Ampel-Regierung möchte laut Koalitionsvertrag nichts an der derzeitigen steuerlichen Situation verändern. Mit dem FDP-Mantra „Keine Steuererhöhungen“ ist das Thema offensichtlich für diese Legislaturperiode abgeschlossen. 

Dabei handelt es sich um eine ganz bewusste Entscheidung, die hohen Erbschaften zu schonen und die steuerlichen Schlupflöcher für wohlhabende Erb:innen sehr weit offen zu lassen. Dabei wird in Fachkreisen seit Jahren auf das steuerliche Ungleichgewicht hingewiesen. Doch bislang konnte diese Debatte die breite Öffentlichkeit kaum erreichen. Und bis heute hatte noch keine Bundesregierung die Kraft oder den Willen, andiesem Umstand etwas grundlegend zu verändern. 

Wer aber steht dem derart wachsenden Reichtum der Erben gegenüber?

Derzeit geben rund 35 Millionen Menschen in Deutschland ihr verfügbares Einkommen komplett für ihren Lebensunterhalt aus. Sie leben ohne Ersparnisse und finanzielle Absicherung. Eine Vorsorge für die Rente, zusätzliche Ausgaben für Bildung oder für Reparaturen sind so kaum möglich.

Es sind vor allem auch diese Personen, die nicht erben. Vom ärmsten Fünftel der Bevölkerung erhalten in den folgenden fünf Jahren etwa zwei Prozent ein Erbe. Dieses ist mit durchschnittlich 10.000 Euro dann auch noch niedrig. Zum Vergleich: Im reichsten Fünftel beträgt das Durchschnittserbe 145.000 Euro. Die Mehrheit der Bevölkerung darf nur wenig oder gar nichts vom Erben erwarten. Nur 45 Prozent der Bevölkerung erhalten in ihrem Leben ein Erbe, das höher als 50 000 Euro ist.19

Dieser gleichzeitig wachsende Anteil von Armen an der Gesellschaft ist jedoch von den wichtigen, ja den entscheidenden Möglichkeiten gesellschaftlichen Aufstiegs ausgeschlossen – nämlich Teilhabe und Bildung.

All das zeigt: Unser Steuersystem funktioniert nicht mehr. Starke Schultern müssen mehr tragen als schwache, das war einmal dessen Grundsatz. Doch vielfach hat sich das System in sein Gegenteil verkehrt. Die Vermögenssteuer wurde ausgesetzt. Die Grundsteuer ist im OECD-Vergleich niedrig.

Doch in kaum einem anderen Bereich werden Vermögende so stark verschont, wie das im Bereich des Erbens der Fall ist. Durch unzählige Ausnahmen müssen die Vermögenden – wie oben gezeigt – heute kaum noch Erbschafts- oder Schenkungssteuern zahlen. Und der Freibetrag, auf den man keine Steuern zahlen muss, kannvon Vermögenden mehrmals ausgeschöpft werden. Große Wohnungsbestände gelten zudem meist als steuerbefreites Betriebsvermögen. 

Hinzukommt das „Schlupfloch“ der gemeinnützigen Stiftungen: Sie dürfen bis zu einem Drittel der Einkünfte für den Unterhalt der Stifter:innen und der Familie einsetzen. Ein bunter Strauß an Steuerausnahmen steht den Vermögenden zur Verfügung. Und die kleinste gesetzliche Lücke wird von spezialisierten Anwaltskanzleienzusätzlich gefunden und ausgenutzt. 

Das Ergebnis: Im Jahr 2021 betrug der Steuersatz auf Schenkungen über 20 Millionen Euro durchschnittlich magere zwei Prozent.

Daher bedarf es heute dringend einer Reform der Erbschaftssteuer. Obwohl das Bundesverfassungsgericht unser jetziges System bereits als verfassungswidrig eingestuft hat, wurde es seitdem nicht grundlegend geändert. 

Dabei muss die Erbschaftssteuer unbedingt wieder eine progressive Steuer werden. Wir können nicht weiterhin die Reichen und Vermögenden beim Steuernzahlen außen vor lassen. Es gibt keinerlei nachvollziehbaren Grund, warum gerade die größten Erbschaften steuerfrei bleiben. Es widerspricht dem Gerechtigkeitssinn und vielen Prinzipien, auf die wir uns in der Gesellschaft geeinigt hatten. Das kann sich unser Land nicht länger leisten.

Daher müssen wir die Verschonung von Betriebsvermögen endlich kippen. Die Idee, Unternehmen gingen in die Insolvenz, wenn sie etwas höhere Steuern zahlen müssten, entspricht nicht der Realität. Es sind Drohgebärden, die bereits gegen die Einführung des Mindestlohnes benutzt wurden. Es gibt dagegen die Möglichkeit der Stundung oder Streckung der Zahlungen. Es gibt die Möglichkeit, Härtefälle einzuführen.

Die Frage, die wir uns vielmehr stellen sollten, ist die der zukünftigen Innovationsfähigkeit Deutschlands. Wir schaffen uns mit unserem Steuer- und Erbensystem eine Gesellschaft, die sich an das Gestrige klammert und die Zukunft aus dem Blick verliert. Aber können wir es uns wirtschaftlich leisten, ein Land zu sein, das vor allem in die Vergangenheit schaut und dabei den Blick nach vorne vergisst?

Ein Land, in dem sich wenige Familien an das Erreichte klammern und Vermögen von Generation zu Generation leistungslos weitergeben wird, ist kein Land, das Innovation schafft. Wir haben ein System geschaffen, in dem Armut verwaltet und Überreichtum staatlich gefördert wird. Es ist ein System, das uns langfristig auch wirtschaftlich schaden wird.

Unzählige Talente verkümmern, die keine Chance haben, ihr Potenzial auszuschöpfen, weil sie in eine arme Familie hineingeboren worden sind. Wir verschenken derzeit so unfassbar viel Potenzial für wirklichen Fortschritt in unserer Gesellschaft. 

Gewiss, eine Steuerreform würde diesen Umstand nicht sofort beenden. So realistisch muss man auch sein. Doch es wäre ein Beitrag einer fairen Verteilung der Lasten.

 In Deutschland verfügen wir über ausreichend finanzielle Ressourcen, um Armut endlich ernsthaft anzugehen.Ein starkes soziales Netz könnte viele Probleme auffangen und Menschen wieder Chancen und Möglichkeiten geben. Daher stellt sich die Frage, ob wir bereit sind, die Ressourcen neu zu verteilen. 

Derzeit leben einige wenige Familien in absolutem Überreichtum, werden Mrd. von Euro größtenteils steuerfrei von Generation zu Generation weitergegeben und so die Vermögen immer größer, während parallel dazu die Armut wächst. Es wird Zeit, dies grundlegend zu ändern.

Das Grunderbe als Vision

Mit zusätzlichen Einnahmen durch eine erhöhte Erbschaftssteuer ergeben sich auch ganz neue Möglichkeiten bei den Investitionen. Für eine Zustimmung der Bevölkerung zu einer höheren Erbschaftssteuer ist es meiner Meinung wichtig auch darzustellen, wofür das Geld ausgegeben wird. Eine Möglichkeit ist ein Gesellschafts- oder Grunderbe. Die Idee ist einfach: Mit 18 Jahren erbt jeder 20.000 Euro vom Staat. Das staatliche Erbe kann für das Studium, eine Ausbildung, Investitionen oder Ähnliches ausgegeben werden. Das Geld steht jedem, unabhängig von der finanziellen Situation der Eltern zur Verfügung.

Diese Idee bringt gleich mehrere Vorteile mit sich. Es wäre eine direkte Investition in junge Menschen. Wer heute erbt, tut dies meist am Ende des eigenen Berufslebens. Doch die wichtigen Entscheidungen werden oft früher getroffen. Soll ich mit einem Studium anfangen? Absolviere ich ein Praktikum im Ausland? Kann ich es mir leisten, mich politisch zu engagieren? Traue ich mich, ein eigens Unternehmen zu gründen?

Es sind diese Entscheidungen und diese Jahre, die unser Leben entscheidend verändern. Das Grunderbe setzt genau dort an. Es gibt Menschen in einer entscheidenden Phase des eigenen Lebens neue Möglichkeiten.

Das Grunderbe ist auch eine effektive Maßnahme, um die Vermögensungleichheit zu bekämpfen. Das DIW hat die Auswirkungen des Grunderbes auf die Vermögensverteilung ausgerechnet und kommt zu ermutigenden Ergebnissen. So baut das Grunderbe die Vermögensungleichheit deutlich stärker ab als beispielsweise die vieldiskutierte Vermögenssteuer. Das Grunderbe kann die Vermögen der unteren Hälfte der Bevölkerung um 60 bis 90 Prozent steigen lassen. Mit dieser Verschiebung kämen wir der gesellschaftlichen Idee der Chancengerechtigkeit wieder ein Stück näher. Es ist die Möglichkeit, allen eine Chance in dieser Gesellschaft zu geben.

 Das Grunderbe ist zudem ein wichtiger Beitrag zur Generationengerechtigkeit. Es ist nicht nur eine Umverteilung von Vermögenden in die gesamte Bevölkerung, sondern auch von Alten zu Jungen. Wir geben einer Generation, die in Teilen zunehmend ins Armutsrisiko rutscht, neue finanzielle Spielräume. 

Wir haben es, wie die letzten Jahre gezeigt haben, mit einer in Teilen hochpolitischen und interessierten jungen Generation zu tun. Mit der Klimakrise, einer Welt in Unordnung und einer sozialen Schieflage hinterlassen wir ihnen dabei einen ordentlichen Scherbenhaufen. Wir muten der jungen Generation viel zu und auf ihr lastet einegroße Verantwortung. Es ist dann aber auch unsere Verantwortung, dieser Generation neue Chancen zu ermöglichen. Eine gewisse Umverteilung von Alt zu Jung ist dabei ein fairer Lastenausgleich und eine Investition in unsere Zukunft.

Das Grunderbe kann auch zu einer Angleichung der Vermögen zwischen Ost und West führen. Wir haben gesehen, wie stark die Unterschiede beim Thema Erben sind und wie wenig sich die Vermögensungleichheit in den letzten 30 Jahren angeglichen hat. Die Ost-West-Verhältnisse sind trotz vieler Bemühungen festbetoniert. Das Grunderbe würde wenigstens zu Rissen in diesem Beton führen. Die Vermögensungleichheit zwischen Ost und West würde sich zwar nicht gleich auflösen, aber es käme ein Prozess in Gang, der vielen Menschen neue Chancen eröffnet.

Dabei ist das Grunderbe keine Utopie, sondern durch die Erhöhung der Erbschaftssteuer leicht finanzierbar. Ein Grunderbe in einer Höhe von 20.000 Euro würde jährlich etwa 15 Mrd. Euro kosten. Parallel dazu werden jährlich etwa 400 Mrd. Euro vererbt oder verschenkt mit derzeitigen Steuereinnahmen von acht Mrd. Euro. Das bedeutet, dass Erbschaften und Schenkungen im Durchschnitt lediglich mit zwei Prozent besteuert werden. Eine durchschnittliche Erbschaftssteuer von zehn Prozent würde sogar zusätzliche Einnahmen in Höhe von 32 Mrd. Euro bringen. Das Grunderbe und noch zusätzliche Investitionen in Bildung, Infrastruktur oder soziale Maßnahmen wären so möglich.

Diese Zahlen belegen, wie viel selbst eine moderate Erbschaftssteuer einbringen kann und wie leicht eine Maßnahme wie das Grunderbe finanzierbar wäre.

 Gewiss, ein Grunderbe kann nicht jegliche Ungerechtigkeit des Systems auflösen. Das Geburtenbingo – die Frage nämlich, wo und in welche Familie man hineingeboren wird – bleibt weiter bestehen.

Doch das Grunderbe ist eine Möglichkeit, endlich Veränderungen im Bereich des Erbens voranzubringen – und so für mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu sorgen. Es wäre die Rückkehr in die soziale Leistungsgesellschaft und zu den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Und es wäre eine Maßnahme, die sehr vielen jungen Menschen endlich eine Perspektive geben würde.

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