Dieser Beitrag wurde in leicht geänderter Form bei Perspektiven DS veröffentlicht.
Vor einigen Wochen ist mir etwas Seltsames passiert. Als ich mich mit etwa 30 weiteren Personen in einem Online-Workshop befand, wurden die Teilnehmer in eine 10-minütige Pause geschickt. Um unsere Zustimmung zu der Pause zu signalisieren, sollten wir in unsere Kameras den Daumen nach oben zeigen. Viele kamen dieser Aufforderung nach. Als ich nach zehn Minuten aus der Pause wieder zu meinem Laptop kam, sah ich eine Frau, die immer noch bewegungslos den Daumen nach oben hielt. Ihr Gesichtsausdruck wirkte dabei recht gequält. Er passte so gar nicht zum Daumen nach oben.
In der nächsten Stunde verharrte die Frau weiterhin starr im Bild. Das System zeigte mir, trotz der Bewegungslosigkeit, immer wieder diese Frau im Großbild an. Am Ende des Meetings blieben irgendwann nur noch die Frau und ich im Raum übrig. Mit ihr kommunizieren konnte ich nicht mehr. Nach dem Meeting stellte ich mir die Frage, was wohl mit ihr passiert war. Fand sie das Seminar so langweilig, dass sie weggegangen ist und uns restlich Verbliebenen aber ein positives Signal mitgeben wollte? War sie vielleicht noch dabei, wollte gar mit uns reden, nur das System hat es nicht mehr zugelassen? Ist ihr vielleicht etwas Schlimmeres passiert und das letzte verbliebene Bild von ihr ist ein verschwommenes, verpixeltes Ebenbild mit einem verkniffenen Gesicht und einem Daumen nach oben? Dieses kleine alltägliche Beispiel zeigt, wie das Digitale unsere Kommunikation grundlegend gewandelt hat. Es zeigt, welchen Einfluss das Digitale auf unser Zusammenleben mittlerweile hat. Und es zeigt, wie die Corona-Krise unseren Bezug zum Digitalen geändert hat.
„Deutschland sitzt vor dem Laptop“ – so lassen sich wohl die zurückliegenden Wochen gut beschreiben. Das Digitale ist während der Corona-Pandemie zum neuen Normalzustand geworden. Freunde treffen ging nur noch über Videokonferenzen; die Kommunikation auf der Arbeit nur noch über E-Mails und Chatprogramme. Die Pandemie hat uns in die komplette digitale Abhängigkeit geführt. Diese Zeit, so mag man es betrachten, war ein guter Testlauf für eine in Gänze durchdigitalisierte Zukunft. Wir durften für einige Wochen mal in die Zukunft schauen. Diese Pandemie sei eine große Chance für die Digitalisierung, hieß es derweil oft. Doch ist sie das wirklich?
In den letzten Wochen hatte ich täglich mehrere Videokonferenzen. Ich habe meinen Laptop morgens aufgeklappt und abends wiederzugeklappt. Ich habe auf Tasten gedrückt, Menschen sind erschienen und wieder verschwunden. Eine effizientere Methode Menschen zu treffen hätte der Kapitalismus nicht finden können. Doch wer will schon Effizienz im Zwischenmenschlichen? Je schlimmer die Krise draußen wurde, desto behaglicher haben wir es uns im Digitalen gemacht. Während die einen an der Supermarktkasse saßen oder Menschen gepflegt haben, durften wir uns ins Digitale zurückziehen. Wenn ich während dieser Zeit durch meine Social-Media-Kanäle hindurchgescrollt bin, war von Krise wenig zu spüren. Zu sehen gab es Freunde, die bei Videokonferenzen gemeinsam Spaß hatten, Menschen, die zuhause Sport gemacht haben, andere haben gekocht und wollten dies festhalten. Die Krise da draußen haben wir weitestgehend ferngehalten. Das Digitale hat sich, in meiner Wahrnehmung, erstmals in Gänze von dem Analogen entkoppelt. Es stellt nicht mehr die Realität dar, sondern ein geschöntes Ebenbild.
Diese Entwicklung ist keine, die erst in den letzten Wochen begonnen hat. Durch unsere Abhängigkeit zum digitalen Raum ist sie aber deutlicher zu Tage getreten und exponentieller sichtbarer geworden. Wir konnten uns der Sichtbarkeit dieser Entwicklung nicht mehr entziehen. Wenn ich in den Urlaub fahre, Ausstellungen besuche oder zu Konzerten gehe, bin ich die Hälfte der Zeit damit beschäftigt, Momente in Videos und Fotos festzuhalten. Es stört mich dann auch nicht, dass der Moment und das Fotografieren sich nicht vertragen. Was ich festhalten will verschwindet, in dem ich es festhalten will. Der Moment ist zerstört, weil ich mich nur noch auf das Fotografieren konzentriere. Obwohl mir das auch in dem Augenblick sehr wohl bewusst, ist ändere ich nichts an der Situation. Mein digitales Ebenbild scheint mir wichtiger zu sein als der reale Moment. Und um mich rum machen alle das Gleiche.
Diese Entwicklung verdeutlicht, dass wir immer mehr Zeit in einem Statusmedium verbringen. Jede Regung wird bewertet. Der Daumen nach oben ist zur neuen Währung geworden. Diese Währung lässt sich nur mit Perfektion, mit dem eigenen Ebenbild bekommen. Die Kriterien sind unerbittlich. Wer sich der eigenen Vermarktung entzieht, der entzieht sich auch dem digitalen Zuspruch. Obwohl ich, so würde ich mal behaupten, ein gewisses Selbstbewusstsein besitze, kann auch ich mich davon nicht entziehen. Wenn ich etwas online schreibe, kontrolliere ich regelmäßig, welche Reaktionen es gibt. Wenn es keine Reaktionen gibt, beginne ich an meinen Formulierungen zu zweifeln. Wir sind digital in einer endlosen Feedbackschleife gefangen. Auf alles, was wir im Digitalen tun, folgt die anschließende Bewertung. So wertvoll Bewertung in vielen Situationen auch sein mag: Ich habe Angst, was diese konstante Bewertungslogik mit unserer Gesellschaft macht. Ich habe Angst, wie eine Gesellschaft sich verändert, wenn alles Handeln die darauffolgende Bewertung bereits mitdenkt. Erschwerend kommt hinzu, dass die sozialen Medien das „Ich“ ins Zentrum jeglichen Handelns stellen. Auf sozialen Netzwerken ist alles persönlich. Das ist die Grundarchitektur dieser riesigen digitalen Kommunikationsmechanismen. „Was macht du gerade, Yannick?“ fragt mich beispielsweise Facebook jeden Tag penetrant. Es ist eine tägliche Aufforderung, mich selber ins Zentrum des Denkens zu stellen. Es ist eine Aufforderung zur unverhohlenen Selbstdarstellung.
In den Wochen der Corona-Krise hieß es oft, dass eine neue solidarische Gesellschaft entstehen würde. Der Kapitalismus wurde in vielen Leitartikeln kritisiert, das Hohelied auf einen handlungsfähigen Staat wurde gesungen. Die Menschen in den so genannten systemrelevanten Berufen wurden auf einer Welle der Zustimmung getragen. Auf der Höhe der Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie haben sich allabendlich Menschen an ihren Fenstern versammelt, um den Angestellten der Krankenhäuser und Supermärkte zuzuklatschen. Dieses Klatschen mag im Einzelfall gut gemeint gewesen sein, es mag eine medial gut transportierbare Geste sein, doch auf mich wirkte dieses Schauspiel sehr befremdlich. Menschen, die aus ihren Altbauwohnungen heraus der leeren Straße zujubeln. Ein Klatschen, das sich doch sehr unterscheidet vom Zujubeln nach einem Konzert, das einen begeistert hat. Mich hat es eher an den Zuspruch erinnert, das man einem Kind entgegen bringt, wenn es zum ersten Mal die Ergebnisse des Kunstunterrichts mit nach Hause bringt.
In den Wochen nach der Krise ist das vielgepriesene neue „Wir“ dann auch schnell wieder zusammengebrochen. Die anfängliche Euphorie über den neuen gesellschaftlichen Zusammenhalt ist nicht mehr existent. Es war ein „Wir“, das sich allein durch einen Mangel gespeist hat. Man hat sich in der Krise zusammengerobbt. Und nach dem krisenartigen Zustand machen alle so weiter wie bisher. Die sozialen Unterschiede kommen wieder in Gänze zum Tragen, sie werden wieder sichtbar. Sichtbarer denn je.
Für ein neues „Wir“ hat auch der öffentliche Raum zur Formung dieses neuen Gefühls gefehlt. Es hat ein öffentlicher Raum gefehlt, in dem die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse stattfinden konnten. Das Internet, so muss man im Jahr 2020 leider konstatieren, ist ein durchprivatisierter Raum geworden. Die öffentlich-rechtlichen Systeme wie die Wikipedia konnten sich kaum weiterentwickeln und verharren in der Nische. Dem gegenüber stehen die weltweit größten Unternehmen. Diese Unternehmen haben eine nie dagewesene Macht aufgebaut, die mit einer Demokratie kaum mehr vereinbar ist. Sie verfügen über unfassbare Geldreserven, gestalten die politischen Debattenräume und haben eine nie dagewesene Detailkenntnis über unsere Leben. Unsere neue Öffentlichkeit wird im Digitalen von Konzernen gestaltet. Konzernen, die der Öffentlichkeit keine Rechenschaft schulden.
Doch die Digitalisierung hat nicht nur diese neuen mächtigen Konzerne hervorgebracht, sondern hat auch eine frühkapitalistische Idee realisiert. Von vielen unbemerkt und von uns unreguliert, sind wir nach dem Zeitalter des Neoliberalismus in das Zeitalter der digitalen Plattformen übergegangen. Dabei kommt die neue Wirtschaftsform dem der Finanzindustrie erschreckend nahe. Im Digitalen Zeitalter der Plattformen sind der Markt und das Unternehmen oft identisch. Nehmen wir zum Beispiel Amazon: Hier werden die Kunden systematisch an proprietäre Märkte gebunden. Damit werden die Unternehmen selber zu den Märkten. Dabei war der Grundgedanke des Neoliberalismus die Unabhängigkeit der Märkte. Während es im Fordismus um die Effizienz der Nutzung von Arbeitskraft ging, geht es in der digitalen Wirtschaft um die Aneignung von Marktbesitz. Die digitalen Märkte sind damit eine frühkapitalistische Idee, bei der der Staat der große Verlierer ist. Wenn der Neoliberalismus die Eroberung immer neuer Felder durch den Markt ist, dann ist der digitale Kapitalismus die Eroberung des Marktes selbst durch eine kleine Zahl privatwirtschaftlicher Unternehmen.
Die Corona-bedingte Turbodigitalisierung wurde von vielen gefeiert. Von vielen wurde erleichtert betont, dass Deutschland endlich einen Schritt Richtung Digitalisierung gehen würde. Doch mir hat diese Krise nur noch einmal vor Augen geführt, auf welchem Weg der Digitalisierung wir uns derzeit befinden. Ein Weg, aus dem kein neues „Wir“ entstehen kann. Ein Weg, der uns in eine neue Wirtschaftsära führt. Ein Weg, in dem die Debattenräume vollends privatisiert sind. Es ist ein Weg, den ich nicht gehen will.
Beatrice Moreno
Lieber Yannick,
dein Beitrag trifft viele Aspekte der sogenannten „Digitalisierungsbeschleunigung“ durch die Covid-19-Pandemie. Erlaube mir eine Ergänzung. als Ärztin und Informatikerin konnte ich beobachten, dass diese Digitalisierungswelle sich sehr ungleich ausbreitet. Verlierer ist in doppelter Hinsicht ist der alte Mensch, bei dem der Schutz zum „digitalen Ausschluss“ wird. Die Digitalisierung muss alle Menschen mitnehmen oder sie verdient ihren Namen nicht. Close digital distance.