Dieser Text ist am 03.12. im Tagesspiegel erschienen.
Am Samstag haben die Mitglieder der SPD, unserer Partei, Saskia Esken und Norbert Walter Borjans als neue Parteivorsitzende nominiert. Damit ist klar, dass sich innerhalb der SPD und auch innerhalb der Großen Koalition etwas verändern wird. Doch derzeit weiß noch niemand wie dieses etwas konkret aussehen soll. Während die SPD zwischen Abbruch der Koalition und ihrer Weiterführung hin und her taumelt versichert die CDU reflexartig das Festhalten an dieser Koalition. Die Bundeskanzlerin bekundete bereits in der zurückliegenden Woche im Bundestag ihr Festhalten an der Koalition. In der SPD wiederum werden die Rufe nach einem Ende der Koalition immer lauter. An diesem Wochenende kommt die Partei zu ihrem Bundesparteitag zusammen und muss eine Entscheidung treffen wie es weiter gehen soll.
Doch nicht nur die Parteien wissen nicht wie sie weiter vorgehen sollen, auch in der Bevölkerung zeigt sich ein ähnliches Bild. Laut einer neuen Allensbach-Umfrage haben nur noch 26 Prozent der Wähler Vertrauen in die Große Koalition. Zeitgleich wollen aber auch nur 31 Prozent der Befragten Neuwahlen. Es scheint so als hätte sich das politische System in eine destruktive und endlose Debatte manövriert. Irgendwie geht es nicht mehr mit der Großen Koalition weiter, aber niemand weiß, welcher alternative Weg derzeit gangbar wäre.
Wir wollen daher einen neuen Weg vorschlagen. Einen Weg, der uns aus dieser Sackgasse führt, einen Weg, der den Volksparteien wieder eine Perspektive gibt. „Zur Mitte der Legislaturperiode wird eine Bestandsaufnahme des Koalitionsvertrages erfolgen, inwieweit dessen Bestimmungen umgesetzt wurden oder aufgrund aktueller Entwicklungen neue Vorhaben vereinbart werden müssen.“, so sagt es der Koalitionsvertrag. Warum nutzen wir diese Klausel nicht aus, um zusammen mit der Gesellschaft einen neuen Gesellschaftsvertrag zu verhandeln? Wie könnte der Prozess, den wir vorschlagen konkret aussehen?
Die Große Koalition nimmt sich drei Zukunftsfelder wie beispielsweise den Klimaschutz, die Digitalisierung und Europa vor und schreibt zusammen mit Vertretern der Zivilgesellschaft jeweils einen neuen 10 Punkte Plan für die verbleibenden zwei Jahre der Großen Koalition. Klima- und Energiepolitiker der Koalition laden zum Beispiel Vertreter von Fridays for Future, der Gewerkschaften und des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung zu den Verhandlungen dazu. Diese neue Runde erstellt zehn konkrete Maßnahmen für die kommenden zwei Jahre, um tatsächlich die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen. Ähnlich soll es für ein solidarisches Europa funktionieren. Abgeordnete sollen sich mit Organisationen wie etwa Amnesty International und europäischen Think Tanks zusammensetzen und an einer Neuausrichtung europäischer Migrations- und Flüchtlingspolitik arbeiten.
Am Ende werden alle Themenfelder zusammengetragen und in einen neuen, breitgetragenen Gesellschaftsvertrag gegossen. Regelmäßig kommen im Anschluss Vertreter der Großen Koalition und der zivil- und gesellschaftspolitischen Gruppen zusammen, um den Fortschritt ihrer Vereinbarungen zu überprüfen. Das Beispiel des Kohlekompromisses hat gezeigt, dass Volksparteien auch heute noch die Fähigkeiten haben, große gesellschaftliche Konflikte zu debattieren und zu lösen. An der Prämisse soll der Gesellschaftsvertrag 2021 ansetzen.
Dieser Weg würde gleich mehrere aktuelle Probleme der Großen Koalition aber auch des politischen Systems in Gänze auflösen: Erstens, die Stärke der Volksparteien war es immer, möglichst viele unterschiedliche Menschen in die politische Entscheidungsfindung einzubeziehen. Doch diese Stärke der Parteien nimmt immer mehr ab. Heute steht eine gutorganisierte, starke und deutungsmächtige Zivilgesellschaft den immer schwächer werdenden Volksparteien gegenüber. Für die Demokratie ist das kein guter Zustand. Daher ist es umso wichtiger, die Zivilgesellschaft in das Regierungshandeln stärker einzubinden. Die Volksparteien würden durch diese neue Art des Regierens wieder mehr und unterschiedliche Menschen beteiligen. Die Zivilgesellschaft könnte mitbestimmen, wäre aber auch gezwungen sich auf wichtige Kompromisse einzulassen.
Zweitens erleben wir derzeit eine politisierte Jugend, die sich aber immer stärker vom politischen System abwendet. Das Durchschnittsalter der CDU Mitglieder ist 60 Jahre, das der SPD 59. Der Deutsche Bundestag ist ähnlich überaltert. Von 709 Abgeordneten sind derzeit nur 13 unter 30 Jahren. Die Sprache, die Themen und die Ansprüche an die Zukunft der jungen Menschen kommen in der politischen Debatte kaum noch vor. Der Gesellschaftsvertrag 2021 hat die große Chance, gerade auch junge Menschen mitgestalten zu lassen.
Drittens, der Gesellschaftsvertrag 2021 wäre eine wirkliche Probe, ob die Große Koalition noch arbeits- und regierungsfähig ist. Der Aushandlungsprozess würde- vielmehr als die eigene Bewertung der Arbeit – zeigen, ob die beiden Parteien noch zusammenarbeiten sollten und können. Es wäre ein wahrer Test des Modells.
Das Prinzip der Volksparteien ist in einer durchindividualisierten Gesellschaft heute aktueller denn je. Es liegt jetzt an den Parteien das Prinzip der Volkspartei neu zu gestalten. Der Gesellschaftsvertrag wäre ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung.