Dieser Artikel ist am 11.02. im Tagesspiegel erschienen.
Als Christian Lindner vor einigen Wochen vor tausenden aufgebrachten Bauern sprach, ging es plötzlich nicht mehr um Agrarpolitik, Dieselsubventionen oder Naturschutz. „Es ärgert mich, dass ich vor Ihnen als dem fleißigen Mittelstand über Kürzungen sprechen muss, während auf der anderen Seite in unserem Land Menschen Geld bekommen fürs Nichtstun“, rief der Bundesfinanzminister der aufgebrachten Menge zu.
Im Kern forderte Lindner mehr Leistung von den Schwächsten in dieser Gesellschaft. Wie da aus einer agrarpolitischen Demonstration plötzlich eine Leistungsdebatte wurde, war ein interessanter Moment. Er hinterließ den Eindruck, dass für den FDP-Mann Lindner das zentrale Problem dieser Republik die mangelnde Leistung von Asylbewerbern und Sozialhilfeempfängern ist.
Nicht nur diese Episode zeigt: Wir müssen über Leistung reden und darüber, wie wir diesen Begriff verstehen. Denn bei genauerem Hinsehen ergibt sich ein ganz anderes Bild, als es der Minister zu zeichnen versucht.
Der Begriff Leistung ist in den vergangenen Jahren immer mehr entkernt worden. Er ist zu einer Floskel verkommen, die deutlich macht, wie unterschiedlich die Erwartungen in der Gesellschaft verteilt sind. Denn Leistung wird nicht von allen erwartet, nachgefragt, angemahnt. Während Politiker regelmäßig an die Leistungsbereitschaft der wirtschaftlich Schwächsten appellieren, wird eine andere Gruppe konsequent außen vor gelassen: die Überreichen. Mittlerweile wohnen 173 Milliardäre in Deutschland. Nur in den USA und China gibt es mehr Menschen mit Milliardenvermögen als in Deutschland. Und ihre Vermögen wachsen immer weiter.
Betrachtet man die Entwicklung dieser Personengruppe, so hat auch die sich immer weiter vom Leistungsprinzip entfernt. Dies ist auf mehrere parallele Entwicklungen zurückzuführen.
Erstens erleben wir heute in der Bundesrepublik einen noch nie dagewesenen Überreichtum. Mit dem Lidl-Gründer Dieter Schwarz hat der erste deutsche Unternehmer die Schwelle eines privaten Vermögens von 50 Milliarden Euro bereits überschritten. Während ein Großteil der Bevölkerung in den vergangenen Jahren unter der Inflation, den Folgen der Corona-Pandemie und einer stagnierenden Wirtschaft litt, profitierten die Vermögenden von den Krisen.
Das Privatvermögen von Dieter Schwarz wuchs während der Pandemie um mehr als zehn Milliarden Euro. Laut Oxfam ist das Vermögen der Milliardäre in Deutschland seit 2020 um sage und schreibe 70 Prozent gestiegen. Mit Leistung allein lässt sich eine solche Steigerung nicht erklären.
Zweitens beobachten wir in Deutschland eine nie dagewesene Vermögensungleichheit. Die fünf reichsten Familien besitzen mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung, also mehr als 41 Millionen Menschen. Daneben hat Deutschland auch noch eine der niedrigsten sozialen Mobilitäten unter den westlichen Industrieländern. Ein sozialer Aufstieg ist also kaum mehr möglich. Laut OECD dauert es hier in der Regel sechs Generationen, bis arme Familien das Durchschnittseinkommen erreichen. Damit liegt Deutschland zusammen mit Frankreich und Ungarn auf dem letzten Platz in Europa. Zum Vergleich: In Dänemark dauert es zwei Generationen, bis dieser Sprung geschafft ist.
Die dritte Entwicklung ist die zunehmende Bedeutung des Erbens. Wer heute reich werden will, muss in aller Regel erben. Der Anteil der Erbschaften am Privatvermögen ist immer weitergewachsen und aktuell erstmals über 50 Prozent gestiegen. Mehr als die Hälfte der Vermögen sind damit nicht selbst erarbeitet und erwirtschaftet, sondern geerbt worden.
Ich selbst habe vor einigen Jahren geerbt. Keine Milliarden oder Millionen, aber von meinem leistungslosen Erbe konnte ich zwei Wohnungen kaufen. Ich bin nur durch Glück in der Geburtslotterie zu mehr Vermögen gekommen, als ich mir je hätte erarbeiten können. Und mein Fall ist wahrlich keine Ausnahme, sondern absoluter Alltag in Deutschland.
Wir halten fest: Gerade an der wirtschaftlichen Spitze unseres Landes hat Erfolg oft nichts mehr mit eigener Leistung zu tun. Herkunft ist zum zentralen Faktor für wirtschaftlichen Erfolg geworden. Und wer einmal oben ist, bleibt in der Regel auch oben. Diese Erkenntnisse liegen auch einem Bundesfinanzminister vor.
Und trotzdem redet die Politik nicht über die Leistungsbereitschaft der Überreichen.
Dabei böte eine Reform des Steuersystems die Chance, die Idee, dass sich vor allem Leistung wieder lohnen sollte, politisch zu reanimieren. Deutschland ist ein Hochsteuerland für Arbeit. Und ein Steuerparadies für Vermögen. Wer für sein Geld arbeitet, zahlt hohe Steuern. Wessen Geld dagegen für ihn „arbeitet“, zahlt kaum Steuern. Seit Jahrzehnten wurden die Steuern auf Vermögen massiv gesenkt. Die Vermögensteuer wurde ausgesetzt, die Erbschaftsteuer mit zahlreichen Ausnahmen für Großerben versehen, und wer mit Aktien Geld verdient, wird pauschal mit 25 Prozent besteuert. In Deutschland liegt der Anteil vermögensbezogener Steuern bei den Staatseinnahmen bei gerade mal 2,9 Prozent. In den USA machen diese über elf Prozent aus, in Kanada über zwölf Prozent der Einnahmen.
Das „Netzwerk Steuergerechtigkeit“ hat errechnet, dass der Durchschnittsmillionär in Deutschland 24 Prozent Steuern und Abgaben zahlt, die Durchschnittsfamilie aber 43 Prozent. Starke Schultern müssen also immer weniger tragen. Als Folge dieses absurden Systems klafft die Vermögensschere immer weiter auseinander. Es ist ein Steuersystem, das sich nicht mehr an der Leistung orientiert, sondern einseitig die Wohlhabenden schont.
Doch daran will die Bundesregierung vorerst nichts ändern.
„Leistung muss sich wieder lohnen“ würde heißen, Arbeit und Vermögen mindestens gleich zu besteuern. Es würde auch heißen, eine Vermögenssteuer und eine Erbschaftssteuer einzuführen, die ihre Namen verdienen. Das wäre ein notwendiger Paradigmenwechsel nach 30 Jahren Steuersenkungen für die Reichen. Das Ende der heuchlerischen Heiligsprechung der „Leistung“ wäre die Chance für einen Neuanfang. Für die wahren Leistungsträger unserer Gesellschaft.