Dieser Text ist am 12.07. in der taz erschienen.
Dieser Text muss mit einem Eingeständnis beginnen: Die Missstände, die ich beklagen werde, wurden auch durch mich herbeigeführt. Ich war bislang nicht Teil der Lösung, sondern eher des Problems: Lieferdienste für Essen oder für Lebensmittellieferungen innerhalb von zehn Minuten – Ich habe viele Apps, die mir diese Dienste ermöglichen, auf meinem Handy installiert. Wenn ich Sonntagabend auf dem Sofa liege und zu faul zum Kochen bin, bestelle ich schon mal Essen. Wenn ich zu faul bin, um noch mal zum Supermarkt zu gehen, lasse ich mir die Lebensmittel liefern.
Dabei bin ich in meiner Generation nicht allein. Es ist mittlerweile Usus geworden, jeden Service nur einen Klick entfernt zu haben. Wir sind es gewohnt, eine Heerschar an digitalen Dienstleistungen rund um die Uhr zur Verfügung zu haben. Es ist ein Prinzip, das wir mittlerweile in unseren Alltag integriert haben. Nur die wenigsten fragen sich dabei, was das eigentlich mit unserer Gesellschaft macht.
In diesen Tagen und Wochen wurde oft über die schlechten Arbeitsbedingungen der Kurierfahrer*innen diskutiert. Beim Lebensmittellieferdienst Gorillas streiken die Fahrer*innen mittlerweile fast täglich. Der Versuch der Gründung eines Betriebsrats wurde von der Geschäftsführung torpediert. Ein Schema, das man bereits von anderen digitalen Unternehmen kennt. Arbeitnehmer*innenrechte werden möglichst schnell und effektiv bekämpft. Doch hinter diesen Konflikten steckt mehr als nur der klassische Arbeitskampf: Es geht um ein neues Prinzip des Wirtschaftens. Die schlechte Behandlung der Arbeitnehmer*innen ist nicht der singuläre Ausfall einer Geschäftsführung. Es ist ein neues digitales Arbeitssystem, das hier installiert wird. Ein System, das sich auf immer neue Bereiche der Wirtschaft ausdehnen wird, wenn wir nicht schnell reagieren.
Nun ist die Ausbeutung der Arbeitnehmer*innen kein neues Phänomen. Sie ist so alt wie der Kapitalismus selbst. Heute haben sich allerdings einige Grundpfeiler verschoben. Im digitalen Kapitalismus sind der Markt und das Unternehmen oft identisch. Nehmen wir zum Beispiel Amazon: Hier werden die Kund*innen systematisch an proprietäre Märkte gebunden. Während es im Fordismus um die effiziente Nutzung von Arbeitskraft ging, geht es in der digitalen Wirtschaft darum selber der Markt zu sein. Das erklärt auch die unfassbaren Summen, die diesen jungen Unternehmen zur Verfügung stehen. Gorillas wurde zuletzt mit über einer Milliarde Euro bewertet. Entsteht ein neuer Markt wird dort viel Geld reingepumpt damit das Unternehmen sehr schnell selbst zum Markt wird. Aggressivität lässt dabei den Shareholder Value steigen. Frei nach dem früheren Facebook Motto „Beweg dich schnell und mach Sachen kaputt“.
Doch im Digitalen haben sich auch die Arbeitsbedingungen verändert. Die Lieferdienste bieten erstmals in Vollständigkeit per Algorithmus gesteuerte Jobs an. Die Fahrer*innen melden sich in der App an und der Algorithmus erteilt die Aufträge. Dieses Prinzip ist die Entmenschlichung der Arbeitswelt. Während auf den Werbeprospekten mit tollen Worten wie „Team“ und „Community“ geworben wird, bieten diese Unternehmen vor allem eins: Einsamkeit. Eine Einsamkeit, die sehr bewusst herbeigeführt wird. Alles, was Gemeinsamkeit schafft, alles, wo Menschen zusammenkommen, erzeugt Reibung. Und Reibung ist Sand im Getriebe der digitalen Lieferdienste. Es ist der Versuch der Konzerne einer in Gänze singularisierten Arbeit. Der Mensch soll allein vom Algorithmus gesteuert werden. Ein Mitspracherecht gibt es in diesem System nicht mehr. Der Algorithmus und der Gewinn des Unternehmens haben die Kontrolle über die Arbeit übernommen. Es ist der Traum der digitalisierten Arbeit. Nichts darf die Effektivität stören. Mit Algorithmen lässt sich auch schwer diskutieren.
Diese Steuerung per Algorithmus ist ein Prinzip, das sich immer tiefer in unsere Arbeitswelt einschleicht. Viele Bankberater*innen füttern den Algorithmus nur noch mit Daten. Selbst die Polizei wird in einigen Ländern mittlerweile vom Algorithmus gesteuert, indem dieser sagt, wo in der Stadt es sich lohnt, hinzufahren. Die Lieferdienste sind nur die Speerspitze dieser neuen Bewegung. Hier lässt sich aber exemplarisch sezieren, was dieses Prinzip mit unserer Arbeitswelt macht. Einsame Fahrer*innen, die einsame Menschen beliefern. Wir bauen eine kontaktlose Arbeitswelt in einer zunehmend kontaktlosen Welt auf.
Am Beispiel der Lieferdienste lässt sich noch eine zweite bedenkliche Entwicklung beobachten: Wir rutschen ins Zeitalter des überwachungs- und bewertungsgetriebenen Arbeitens. Die Kurierfahrer*innen sind während ihrer Arbeit dauerhaft überwacht. Es wird mitgeschnitten, wo sie hinfahren, wie ihre Kommunikation abläuft, es wird Buch darüber geführt, wie viele Auslieferungen geschafft werden. Die Fahrer*innen werden komplett ausgeleuchtet. Am Ende kommen dann noch die Kund*in dazu und bewertet die Leistung. Ist man mal unfreundlich, steckt man im Stau oder bringt kaltes Essen, gibt es eine negative Bewertung. Es ist der Versuch den Druck konstant hochzuhalten. Dabei ist die Bewertungslogik besonders perfide. Kund*innen haben alle Rechte, die Lieferant*innen keine. Zum ersten Mal bekommt das Individuum bei der Arbeit eine konstante und quantifizierbare Bewertung. Jeder Moment unseres Handelns wird vom technischen System registriert, gespeichert, analysiert. Die Arbeit wird damit entmenschlicht. Es ist das Zeichen, dass jeder schnell austauschbar ist, wenn die Leistung nicht mehr stimmt. In der „Community“ spielt das Individuum vielleicht doch keine Rolle mehr.
Was uns als große „Freiheit“ verkauft wird, ist das genaue Gegenteil. Je mehr Unternehmen heute mit Community werben, desto weniger Zusammenhalt gibt es. Meine Generation ist die erste, die auf dieses Werbeversprechen leider reingefallen ist. Wir glauben bis heute, dass Freiheit so aussieht. Dahinter steckt aber eine kategorische Ablehnung staatlicher Regulierung. Es ist der Vorrang der Ökonomie vor der Politik. Es ist eine spätkapitalistisch-digitale Traumwelt, die immer weiter fortschreitet. Doch wollen wir Freiheit wirklich so für uns definieren?
Es wird Zeit, dass wir uns gegen diese Prinzipien wehren. Wenn wir uns vom blendenden Freiheitsversprechen lösen, ist eine politische Regulierung auch möglich. In Spanien müssen die Unternehmen beispielsweise den Gewerkschaften den Code für die Algorithmen zur Verfügung stellen. So sind die Kuriere nicht mehr blind dem intransparenten Algorithmus ausgeliefert. Wir brauchen Verpflichtungen der Unternehmen auf feste Ansprechpersonen. So stellen wir uns zumindest in geringer Weise der Singularisierung der Arbeit entgegen. Wir müssen Genossenschaftsmodelle fördern, wo Fahrer*innen sich selbst organisieren. Und wir müssen der permanenten Überwachung klare Grenzen setzen. Wenn wir diese Schritte jetzt nicht gehen, etablieren wir ein fatales Prinzip in unserer Wirtschaft. Eines, das mit einer sozialen Marktwirtschaft nur noch wenig zu tun hat.